Achtsamkeit mit all seinen Sinnen

Kleine Gesten reichen oft aus, um anderen eine Freude zu bereiten. Aber auch sich selbst muss man bewegen.

von Jörg Brokmann

Es klingelt an der Haustür. Ein dick eingemummelter Freund überrascht mit einem Fahrradbesuch nach Monaten der Kontaktarmut. Dirk bringt eine kleine Aufmerksamkeit zum dritten Advent vorbei. Nur mal so. „Wir wollen zeigen, dass wir an Euch denken“, sagt er und verabschiedet sich zum nächsten vorweihnachtlichen Abstecher nach Wenden. Eine angenehme Form der Achtsamkeit. Er fühlt sich gewogen, Freude zu bereiten. Ganz einfach.

Gefühle der Dankbarkeit
In diesen Zeiten des seit Mittwoch harten Lockdowns bewegen solche Gesten der Aufmerksamkeit besonders. Sie rühren den Empfänger, bewirken Gefühle der Dankbarkeit, was wiederum den Absender der guten Tat stärkt und bestätigt. Durch Bewegung entsteht Bewegung, nennt dies der Psychodramatiker Moreno. In jeglicher Form.

90-Jährige freut sich über Nachbar-Kekse
Es ist kaum vorstellbar, wie die 90-Jährige dreifache Großmutter und einmalige Ur-Oma Ursel ohne ihre achtsamen Nachbarn die Freude an ihrem Leben behalten würde. Wenn Sie am Nikolausmorgen vor ihrer Wohnung eine Tüte selbst gebackene Kekse und einen kleinen Schokoladenweihnachtsmann entdeckt, fühlt sie sich beachtet, gewertschätzt.

Freundin an Altenheim verloren
Die betagte, noch sehr agile Dame lebt seit mehr als sechs Jahrzehnten in dem Mietshaus und hat gerade vor einigen Monaten ihre beste Freundin Renate an ein Altenheim in Wolfenbüttel „verloren“ – in die Nähe ihres Sohnes. Der Kontakt zu ihr, mit der sie ein halbes Jahrhundert Tür an Tür gelebt hat, ist naturgemäß weniger geworden.

Liebevolle Umarmungen fehlen
Das macht sie traurig, doch wer im Krieg mehrere Male ausgebombt wurde, hat eine gewisse Resilienz erworben. Nicht diese und andere Schicksalsschläge machen ihr wirklich zu schaffen, sondern die vermeintliche „Einsamkeit“ lässt bei ihr bisweilen die Tränen rollen. Die liebevollen Umarmungen fehlen ihr.

Diamantene Hochzeit abgesagt
Dagegen helfen zwar die wöchentlichen Besuche ihres Sohnes und ihrer Enkelkinder. Faktisch. Vom Gefühl her vermisst sie jedoch ihre Freitag-Frühstückstruppe aus dem Heidberg, ihre Koronargruppe vom Donnerstag, die sich auch alle 14 Tage zum Mittagessen bei „Ali“ im Mykenes an der Schillstraße oder im „Hotel Heyer“ in Lehndorf trifft. Sehr gute Bekannte aus Magdeburg erscheinen zurzeit unerreichbar, die diamantene Hochzeit von Verwandten in Ehmen sagt sie ab.

Dienstälteste unter Beobachtung
Da bedeutet die selbstlose Aufmerksamkeit der beiden jungen Pärchen für die „Dienstälteste“ im Haus sozusagen eine Frischzellenkur. Sie genießt deren selbstlose Beachtung. Und ihre eigene Familie fühlt ihre „Oma“in guten Händen.
Wohl dem, wer sich wie Ursel noch auf die jungen Menschen zubewegen kann, ihre Kontaktfreude überwiegt bei weitem die Knörigkeit über die mangelnde Disziplin beim Zerreißen der vielen Pappkartons. „Ja, ja, ich weiß, die bestellen alle im Internet, ich nehme ja schließlich die Pakete an“, kollidiert ihre Hilfsbereitschaft mitunter mit dem Unverständnis darüber, wie ganze Kartons in den Papiermüll entsorgt werden können. In dieser Gemeinschaft im Südosten Braunschweigs achtet Jung und Alt aufeinander. Jeder auf seine Art.

Achtsamkeit in der Theorie
Der Theorie nach kann Achtsamkeit im Zusammenhang mit einem besonderen Wahrnehmungs- und Bewusstseinszustand verstanden werden, als spezielle Persönlichkeitseigenschaft sowie als Methode zur Verminderung von Leiden im weitesten Sinne. Das hört sich kompliziert an, doch im täglichen Alltag erweisen sich diese Wahrnehmungen als großer Gewinn für alle Beteiligten.
Wer bei Wikipedia nachschaut, liest, das Achtsamkeit ein Zustand von Geistesgegenwart ist, in dem ein Mensch hellwach die gegenwärtige Verfasstheit seiner direkten Umwelt, seines Körpers und seines Gemüts erfährt, ohne von Gedankenströmen, Erinnerungen, Fantasien oder starken Emotionen abgelenkt zu sein, ohne darüber nachzudenken oder diese Wahrnehmungen zu deuten.

Alle Sinne bewusst erleben
Das heißt, wir sollten mit unseren Augen bewusst sehen, mit den Ohren bewusst hören, mit unserer Nase bewusst riechen, mit der Zunge bewusst schmecken und mit unserem gesamten Körper bewusst fühlen. In der Theorie des Neurolinguistischen Programmierens (NLP) gehört auch der Gleichgewichtssinn dazu, der für die richtige Balance im Leben sorgt.
Wird ob dieser Erklärungen das einfache Adventsgeschenk oder das „Nikolausi“ überbewertet? Weit gefehlt. Gerade diese Form erzeugt wahre Emotionen, die sich im Unterbewusstsein verankern.
Auf sich selbst zu achten, gelingt nach dem oben erwähnten Psychodramatiker in der Bewegung – ob auf einem Strandspaziergang, beim Laufen oder Wandern durch Wald, Feld und Wiesen, beim Tanzen oder Radfahren. Beim Nachdenken über sich selbst und im Gespräch mit Freunden und Freundinnen oder auch beim Lesen eines Buches.
Wir selbst besitzen also viele Möglichkeiten, etwas gegen die innere Wintertrostlosigkeit zu tun. Die Professorin für klinische Psychologie und Neuropsychologie Michele Wessa (45) erforscht am Leibniz-Institut für Resilienzforschung die mentale Widerstandskraft von Menschen. Sie sagt im Spiegel -Interview, dass man den Kontakt zu anderen Menschen bewusst suchen müsse, etwa durch Videostammtische oder eben Telefonate. Das ist gerade für ältere Frauen und Männer häufig ein Angehen.

Resilienz und Widerstandskraft
Die Kriegsgeneration hat unsagbar schmerzliches Leid erfahren müssen, was mit der heutigen Pandemiesituation nicht zu vergleichen ist. Und musste damit klarkommen.
Viele Frauen und Männer bewiesen ungeahnte Resilienz, auch wenn der Begriff damals noch unbekannt war. Laut Wessa ist Resilienz „die Fähigkeit, aus Krisen gesund hervorzugehen. Damit das gelingt, kommt es unter anderem auf drei Faktoren an: soziale Unterstützung, Selbstfürsorge und das optimistische Denken“. Fehle es in einem Bereich, gerate der Mensch leicht aus der Balance.

Zehn Empfehlungen
Das Leibniz-Institut hat auf seiner Homepage zehn Empfehlungen für die Zeit während der Pandemie ausgesprochen. Unter anderem sollen die Routinen beibehalten oder neue entwickeln werden.
Das Sorgen um sich selbst ist aufgeführt ebenso wie der Nutzen von Sport oder Entspannungstechniken, um sich zu stärken. Neben der ehrlichen Kommunikation mit den Kindern darf auch die Offenheit im Gespräch mit den Großeltern nicht fehlen. Wir selbst sollten uns auf die Isolation vorbereiten, aber auch anderen dabei helfen.

Weihnachtskarte per Hand schreiben
Im praktischen Alltag werden wir in den nächsten Wochen auf intensive Kontakte verzichten müssen. Nicht jedermann ist so beweglich, aktiv die eigene Situation zu meistern. Darum kann eine fröhliche Mail zu den Festtagen, eine freundliche Whatsapp als Beweis der Sympathie, eine digitale oder gar analoge Weihnachts- oder Neujahrskarte, also persönlich per Hand geschrieben mit konventioneller Briefmarke, oder eben der Anruf zumindest ein wenig das Gefühl der Einsamkeit lindern.
Alle aufeinander und auf uns selbst zu achten, ist das Gebot der Stunde.

aus der Braunschweiger Zeitung vom 19. Dezember 2020

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