Strampeln und genießen – bis ans Meer
Eine Radtour nach Sylt erfüllt Sehnsüchte, wenn die Furcht vor der Strecke erstmal gewichen ist.
Von Jörg Brokmann
Die Vorfreude ist wie immer riesig, es ist aufgesattelt, der Respekt angemessen, die Aufregung hält sich in Grenzen. Das Equipment füllt langsam die zwei Packtaschen, in der 15. Auflage reicht die Minimalausstattung. Nur Luftpumpe, Ersatzschlauch und Radhose sind elementar. Vor uns liegen schließlich mehr als 460 Kilometer von Braunschweig nach Sylt.
Dieser Roadtrip an den nördlichsten Punkt Deutschlands hat Tradition in unserer Familie. Ein Rückblick auf die vergangenen Jahre bereitet mir große Freude.
Durchnässt bis auf die Socken
Beispielsweise finde ich bei der diesjährigen Vorbereitung in meinem Bett-and-Bike-Buch Niedersachsen eine Quittung vom 17. Juli 2009. Aha.
Mein Sohn ist elf, ich habe exakt an diesem Tag Geburtstag, und wir suchen bei Sprühregen entlang der Bundesstraße 5 bei Bredstedt ein Quartier, nachdem uns das Hotel Deichgraf die Ein-Tages-Übernachtung brüsk verwehrt hat. Durchnässt bis auf die Socken, steuern wir einen Bäcker an. Mitleidig betrachtet uns die Verkäuferin und stattet uns mit Brötchen, heißem Kaffee und Kakao aus. Während wir schlottern und nebenbei schlemmen, besorgt sie uns ein Dach über dem Kopf in drei Kilometern Entfernung bei liebevollen Gastgebern.
Himmelreich für eine Dusche
Julian kämpft sich mit seinem 20-Zoll-Fahrrad tapfer bis ans Zwischenziel. Ein Himmelreich für eine warme Dusche. Geschafft. Trocken gerubbelt, bereiten wir uns gemeinsam in der Kochnische Nudeln mit Astronautenkost inklusive Steinpilzen zu. Ein Genuss.
Als nette Geste spendiert die freundliche Dame des Hauses am Abend eine Flasche Flens und eine Fanta. Das Plopp ist Musik in meinen Ohren. Erledigt und stolz schlummern wir nach langem Tag selig in den windelweichen Betten. Ein unvergesslicher Geburtstag.
Drama am Hamburger Hauptbahnhof
Unvergesslich auch der Vorfall am Hamburger Hauptbahnhof ein Jahr zuvor: Der Zug fährt Richtung Elmshorn los und zieht meine 14-jährige Tochter Maria mit Vorderrad in der Tür und Hinterreifen auf dem Bahnsteig neben sich her, während Vater und kleiner Bruder Julian schon im Zugabteil warten. Welch ein Malheur!
Glücklicherweise stoppt die Bahn rechtzeitig ohne offensichtliche körperliche Folgen für Maria, aber mit dem Resultat, dass die junge Frau letztmalig mit dem Rad mit uns unterwegs ist. Die Familienfahrten hatten wir damals in Teiletappen per Velo und Bahn mit Ziel Klanxbüll absolviert.
Ohne Kinder unterwegs
Mittlerweile geht es ohne Kinder los, anfangs allein, seit 2017 gemeinsam mit meinem Freund Frank. Die gesamte Strecke. Die ersten beiden Touren Mitte des letzten Jahrzehnts trägt mich mein 25 Jahre altes Peugeot-Fahrrad von Harxbüttel aus über Mittelland- und Elbe-Seitenkanal tapfer 140 Kilometer bis nach Lauenburg an der Elbe.
Ein Riesenritt, der mich um kurz vor fünf vom Sattel fallen lässt. Ein alkoholfreies Weizen bringt mich wieder auf die Beine, dennoch fallen die drei Kilometer bis zur Jugendherberge (JHB) mit Elbblick total schwer. Erschöpft von der Tortur, schaffe ich nicht einmal mehr meine Spaghetti mit Lachs vollständig zu verputzen. Einfach überfordert.
Schmerzen am Hinterteil
Doch der nächste Tag an der Elbe entlang bis nach Hamburg lässt die Schmerzen am Hinterteil vergessen. Fortan übrigens auch. Ob nördlich oder an der Unterelbe – die Strecke an den Elbdeichen gehört mit zu den schönsten Erlebnissen meiner Nordseetouren. Selbst das seit 2011 stillgelegte Kernkraftwerk Krümmel, den weißen Betonklotz, nehme ich erst im zweiten Jahr richtig wahr, so fasziniert mich dieser Fluss mit der pulsierenden Schifffahrt, den Auen und Menschen, die sich drumherum tummeln.
Als Unterkunft in Hamburg ist die JHB Auf dem Stintfang an den Landungsbrücken für Neuradler Pflicht. Ein buntes Gemisch mit Sprachen aus aller Welt, eine bemerkenswerte Übersicht über den Hafen von der Terrasse , im zweiten Jahr erhasche ich gar einen Blick auf die Queen Elisabeth aus dem Fenster des Speisesaals.
Auf dem Nordsee-Küstenradweg vorbei an Blankenese
Die Last der Strampelei sorgt dafür, dass ein Stadtrundgang oder Hamburg bei Nacht für mich flach fallen. Nicht wichtig. Mich erfüllt die monotone Bewegung auf dem Rad mit einer sanften inneren Ruhe. Als Vorteil erweist sich meine relative Fitness auf flachem Parcours, die den Schweinehund mittlerweile nur noch selten fordert.
Vor vier Jahren steigt Frank mit in das Rad-Abenteuer ein. Zur Premiere hole ich ihn in Hamburg-Altona vom Bahnhof ab. Wir folgen dem Nordsee-Küstenradweg, erfreuen uns an der schönen Architektur von Blankenese, bewundern die Strandbader, lassen das Buddelschiff- und das Ernst-Barlachmuseum einfach links liegen — wir Kulturbanausen.
Umweg über Elmshorn
Leider scheitern wir an den Öffnungszeiten des Krückau-Sperrwerks um eine Viertelstunde. Ärgerlich. Der Umweg über Elmshorn kostet Zeit. Hinter Brokdorf verlassen wir die Elbe schließlich Richtung Norden – nach gut einhundert Kilometern erwarten uns zu unserer ersten gemeinsamen Nacht in Wilster im Hotel – ein Himmelbett und griechische Küche. Lecker.
Strammer Gegenwind gestaltet die Fahrt nach Büsum anstrengend. Wir erreichen unser Ziel erschöpft, aber trocken. An der Nordsee entlang steuern wir am vierten Etappentag wie immer die Halbinsel Nordstrand an, was uns erneut die letzten Körner raubt.
Der Pandemie trotzen
Nun denn, ein verheißungsvoller Auftakt. Eigentlich sind wir also seit fünf Jahren ein Gespann. Doch bereits ein Jahr später reißt mich nach zwei Übernachtungen und 220 Kilometern eine heftige Magenverstimmung vom Sattel. Auf der dritten Tagesetappe falle ich nach nur 20 Kilometern fast vom Rad. Frank gebe ich mein im Hotel Imperial an der Reeperbahn frisch geschmiertes Brötchen ab, schleppe mich zu einem Arzt, muss schließlich abbrechen. Passiert. Einmalig.
Auf der Suche nach neuen Rad-Abenteuern hätte uns die Pandemie 2020 fast einen Strich durch die Rechnung gemacht. Fast. Es lockt das Alte Land. Ich wage mich allein — Frank musste passen – durch die landschaftlich herrliche Lüneburger Heide über die Stationen Soltau und Stade bis nach Jork an die Unterelbe.
Unterwegs in Corona-Zeiten
Es ist anders in Corona-Zeiten. In beiden Hotels bin ich fast der einzige Gast, aber der bisweilen ungestörte Weg durch die Apfelplantagen entlohnt auf ganzer Linie. Ich weiß sehr wohl, dass ich privilegiert bin, darf reisen auf dem Rad.
Vor wenigen Wochen wiederholen Frank und ich die gesamte Tour aus dem vergangenen Jahr, genießen besonders das malerische Buxtehude, radeln entlang der Este, um uns in der Brückenbäckerei von Beke Sieg mit frischem Kuchen und Kaffee verwöhnen zu lassen.
Schuckelnd nach Sylt
Kleiner Tipp unter Fernfahrern: das Zweiradfachgeschäft Kerst. Mein Speichenbruch wird von Monteur Tobias Pinnau in Stade innerhalb einer Stunde behoben.
Über die Fähre Wischhafen/Glückstadt geht es wie immer stramm Richtung Norden, über Brunsbüttel an der Küste entlang oder über Meldorf bis nach Husum in den Hafen. Dort entschädigen ein Eis oder eine deftige Zwischenmahlzeit für die Mühen der heutigen Etappe. Die besondere Halbinsel Nordstrand wählen wir immer als letzten Übernachtungsort.
70 Kilometer auf einer Po-Backe
Um die 400 Kilometer – je nach Route – haben wir nach vier Tagen in den Beinen. Wir genießen in Nordstrand ab nachmittags um vier die Sonne im Strandkorb, grasende Kühe, die sich an die Terrasse schleichen und den Plausch mit einer Physiotherapeutin, die auf der Halbinsel zwei Wochen Urlaub verbringt. Fast ist es vollbracht, die restlichen maximal 70 Kilometer reißen wir auf einer Po-Backe ab.
Rundum glücklich steigen wir in Klanxbüll in den Zug, der uns schuckelnd an unser Ziel auf Sylt bringt. Jedes Jahr aufs Neue.